*Unterrichtsforschung anhand von Vignetten in künstlerischen Lernsituationen
„Die Vignette ist nicht lediglich eine nachgetragene Veranschaulichung einer Beobachtung, die es auch ohne sie gibt. Vignetten sind sprachliche Gestaltungen konkreter, sinnlicher Erfahrungen.“ (Käte Meyer-Drawe und Johanna F. Schwarz 2015, S. 125)
Vignetten sind phänomenologische Texte, die auf Protokollen teilnehmender Erfahrung basieren. Als kurze, prägnante Erzählungen veranschaulichen sie Erfahrungsmomente und eröffnen als sinnlich-ästhetische Vergegenwärtigungen Erkenntniswege im Forschungsprozess (vgl. Agostini 2019, S. 302). Sie reduzieren die unterrichtliche Situation dabei nicht auf das gesprochene Wort, sondern berücksichtigen die Zwischenleiblichkeit und tatsächlichen Handlungen der Lernenden (vgl. Meyer-Drawe/Schwarz 2015, S. 126).
Unter der phänomenologischen Prämisse, dass der Mensch aufgrund seines Leibes vor aller Reflexion bereits mit der Welt und den anderen in der Welt verwoben ist, sind Vignetten als Ausdrucksform dieses Weltverhältnisses als Resonanzräume zu verstehen, in denen sich Erfahrungen verkörpern und als vergegenwärtigte Spuren nachklingen (Bauer/Schratz 2015, S. 168). Sie versuchen, den Reichtum der Wahrnehmungen in situ zu fassen und durch eine präzise, prägnante, pointierte Versprachlichung darzustellen, wie die körper- und leibgebundenen Ausdrucksweisen der Schüler*innen als Lernerfahrungen in Erscheinung treten. Mit den Worten Evi Agostinis nehmen Vignetten „Leiblichkeit ernst, indem sie neben sprachlichen nicht-sprachliche Erfahrungsmomente in schöpferische Ausdrucksformate überführen und damit dem Lernen als Erfahrung einen leiblichen Artikulationsraum verschaffen“ (Agostini 2019, S. 305).
Eine Vignette ist – wie jedes geschriebene Wort – kaum vollständig oder gar objektiv. Ihre Grenzen liegen in der leiblichen Erfahrung selbst, die nur bedingt intersubjektiv nachvollziehbar ist. Außerdem kann jede signifizierende Versprachlichung in ihrer unumgänglichen Nachträglichkeit immer nur graduell angemessen artikuliert werden. Nichtsdestotrotz entwickelt diese Deskriptionsform ihre Stärke vor allem dann, wenn sie in ihrer Konkretheit an die Leiblichkeit und die individuell vorgeprägten Erfahrungen der Leser*innen appelliert und sie in das beschriebene Handlungsgeflecht hineinzieht (vgl. ebd., S. 306). Die Bildungsforscherinnen Käte Meyer-Drawe und Johanna F. Schwarz fassen dieses Anliegen treffend zusammen:
„Vignetten verhindern, falls ihnen die Verdichtung gelungen ist, eine unmittelbare Interpretation. Weil wir stets mehr gesehen haben und wissen, als wir sagen können, erzeugen wir im Vignettenschreiben unbemerkt Überschüsse für die Lesenden. Dieses Surplus kann dazu führen, dass man in die Vignette hineingezogen wird, sie gleichsam von innen erlebt, ohne Zeuge des Unterrichtsgeschehens gewesen zu sein. Von gelungenen Vignetten wird unsere leibliche Responsivität angesprochen. […] Damit haben Vignetten einen zündenden Effekt. Diese Einstellung zur Vignette, die sie nicht am Maßstab begrifflicher Präzision und Generalisierung scheitern lässt, ermöglicht uns, ihren Reichtum auszuschöpfen. Die Vignette hat eine Genauigkeit eigener Art. Sie ist nicht präzise im Sinne definitorischer Ansprüche. Sie ist prägnant, d. h. trächtig. Sie begrenzt nicht, sondern verführt durch Üppigkeit, welche die bändigende Macht der Sprache in Erinnerung hält.“ (Meyer-Drawe/Schwarz 2015, S. 128)
Vignetten aus einem beobachteten Unterrichtsgeschehen unterfüttern kunstpädagogische Forschung mit der Wahrnehmung von Lebendigkeit und ereignishafter Dynamik, die den schulischen Kunstunterricht charakterisieren. Die verbalen Äußerungen der Lernenden und die Impulse der Lehrerin werden dazu in den Fließtext eingeflochten, um die Verwobenheit von Handlung und Sprache bzw. Produktion und Reflexion zum Ausdruck zu bringen. Sie werden lediglich kursiv als direkte Rede markiert. Der Umfang der Vignetten changiert stark. Kurze Momente geraten ebenso in den Fokus dieser Deskriptionsform wie die Darstellung zusammenhängender Sequenzen aus dem Unterrichtsgeschehen.
Vignetten aus der Dissertationschrift: Körper, Haut und Hülle. Ausdrucksformen von Körper und Leib in der Performancekunst, München: Kopaed, 2022.
Vignetten aus einem Unterrichtsprojekt mit ukrainischen Schüler*innen am Gymnasium Radeberg
Vignetten aus einem Unterrichtsprojekt am Gymnasium Nossen aus einem Forschungsprojekt von vier Studierenden